In Alfred Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz" verlässt Franz Biberkopf nach vier Jahren Haft das Gefängnis Tegel und nimmt sich vor, von nun an ein anständiges Leben zu führen. Der Ex-Sträfling versucht in der Grossstadt Fuss zu fassen, doch Berlin lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. Trotz seiner Vorsätze fällt Franz zurück in alte Muster. Er versucht sich mit ehrlicher Arbeit über Wasser zu halten, rutscht aber unwissentlich in kriminelle Machenschaften. Die wahre Strafe war nicht die Haft, sondern die Erkenntnis, dass die Gesellschaft ihm keinen wirklichen Platz gibt.
In der ersten Deutschlektion zum Thema Berlin Alexanderplatz gab uns Herr Beutler die Aufgabe, die Grossstadt mit dem Internet zu vergleichen. Im Klassengespräch hatten wir verschiedene Ansätze. Die Grossstadt und das Internet sind beides Orte der Begegnung und man interagiert häufig mit fremden Leuten. Dabei gibt es sowohl in der Grossstadt als auch im Internet sichere aber auch unsichere Bereiche wie zum Beispiel das Dark web im Internet oder dunkle, verlassene Strassen in der Grossstadt. Herr Beutler zeigte uns während des Klassengesprächs eine andere Parallele: Die überwältigende Menge and Informationen. Im Gegensatz zum Leben auf dem Land ist in der Grossstadt überall irgendetwas los. Im Internet herrscht genauso ein regelrechter Informationsüberfluss. Weitere Ähnlichkeiten die wir fanden waren beispielsweise die Bildung von sozialen Bubbles oder wie man sich im Chaos der Grossstadt wie auch im Internet verlieren kann.
Was mir beim Lesen und auch bei späteren Besprechungen aufgefallen ist, ist der Schreibstil von Döblin. Er zeigt die Grossstadt in einer Art wie ein Social-Media-Feed mit Bruchstückhaften Eindrücken. Die Handlung wird an manchen Stellen unterbrochen. Songtexte der Lieder "Mein Johannes, ach der kann es" von Vicky Werkmeister und "Mein Papagei frisst keine harten Eier" von Hermann Frey und Walter Kollo erscheinen ohne Erklärung im Text, Abbildungen von Strassenschildern sind im Text eingefügt und Dialoge werden mitten im Satz von Werbesprüchen unterbrochen. Herr Beutler betonte immer wieder, dass Döblin Berlin in diesem Roman eine Hauptrolle gibt und die Grossstadt als eigenständige Figur zeigt. Ich verstehe das so, dass die Stadt zwar nicht direkt selbst handelt, sondern als allgegenwärtige Präsenz gezeigt wird und sich mit solchen Unterbrüchen in die Erzählung eindrängt und den Fokus immer wieder auf sich selbst lenkt. Man erlebt Berlin also gewissermassen nicht nur als Leser sondern als Passant. Döblins Schreibstil ist einzigartig. Das machte das Lesen und Verstehen des Romans für mich aber auch zu einer Herausforderung.
Um das berliner Chaos am eigenen Leib zu erleben, reiste ich gemeinsam mit meinem Kollegen Florence im Dezember nach Berlin. Schon auf der hinreise wurden wir im Zug von den Durchsagen der Deutschen Bahn unterbrochen. Mit einer kleinen Verspätung kamen wir am Morgen in Berlin an und wir wurden nicht enttäuscht. Mit einem berlinerischen Streitgespräch aus dem Bilderbuch wurden wir auf den Bahnhoftoiletten begrüsst. Direkt im Anschluss hörten wir Sirenen vor dem Bahnhof. Bevor wir Berlin erkundeten, gingen wir in ein Café. Tagsüber streiften wir durch die Strassen Berlins und überraschenderweise waren die Strassen nicht so voll, wie ich es erwartet hatte. Sofort fielen mir massive Betonbauten und Baustellen auf. Berlin scheinte für mich wie eine Stadt, die nie fertig wird, immer im Umbau, immer im Wandel.
Nach Sonnenuntergang war Berlin wie eine andere Stadt. Sobald es dunkel wurde, erwachte die Grossstadt. Nach dem ganzen Herumlaufen gönnten wir uns eine Portion Pommes und eine Curry Wurst an einem Imbissstand in der Nähe des Alexander Platzes. Als wir den Weihnachtsmarkt betraten war wirklich überall etwas los. Zwischen den beleuchteten Ständen drängten sich Touristen, Berliner und Feiernde, während der Geruch von Glühwein in der Luft lag. Eine Gruppe mittleren Alters stolpperte sichtbar angetrunken durch die Menge, daneben eine Gruppe von Leuten, die ukrainische Lieder sangen. Auf unserem Weg weg vom Weihnachtsmarkt begegneten wir einem Mann, der anscheinend die Weihnachtsstimmung mit etwas zu viel Glühwein gefeiert hatte. Nach einem Slalomlauf und einem Sturz halfen ihm zwei andere wieder auf die Beine.
Um die Zeit zu vertreiben bis der Humboldthain Club öffnete, gingen wir wieder in ein Café. Nachdem wir ein Espresso getrunken hatten und das Handy wieder aufgeladen war, machten wir uns auf den Weg. Während wir mit der U-Bahn fuhren, kamen immer wieder Menschen durch die Waggons, die um eine Spende baten. Wir überhörten verschiedene Konversationen. Eine kleine Grupper Touristen, die auf englisch über andere U-Bahn-Fahrgäste lästerten und eine Frau im Rollstuhl die mit einem Mann sprach. "Tegel ist die schlimmste Erziehungsanstalt. Die können mich mal." Während Berlin an vielen Orten einen belebten und aufregenden Eindruck machte zeigte sich an der U-Bahn-Station eine andere Seite der Stadt. Obdachlose suchten schutz vor der Kälte, einige Menschen wirkten abwesend und verloren. Die Szenerie liess mich nachdenklich zurück. Die Zeit im Club ging schnell vorbei und wir machten uns schon bald wieder auf den Weg zum Zug. Um Vier Uhr morgens waren wir züruck beim Alexanderplatz - übermüdet, frierend aber mit der Gewissheit, dass wir Berlin in all seinen Facetten erlebt hatten.
Bilder: Eigenaufnahmen
Hilfsmittel: ChatGPT für Brainstorming